Wohin führt mich die Reise dieses Jahres? Wohin führt mich der Weg ins Innere im Äußeren? 20 Tage bleiben für die Vorbereitung.
ANKOMMEN
Lange dauert der Flug über das Meer. Lange dauert der Flug über den neuen alten Kontinent Lateinamerika. Brasilien, Argentinien, Paraguay. Endlich kommen die Anden in Sicht und die Namen der Städte werden vertrauter. Der andere Ozean, der Pazifik kommt ins Bild auf dem Bildschirm. Ich freue mich aufs Ankommen. Nun will ich keine Filme mehr sehen, auch wenn die Auswahl aus allein 60 Filmen der letzten drei Jahre enorm ist und mir die Nacht verkürzten.
Der Kapitän meldet sich aus dem Cockpit: Links sehen sie den Aconcagua, mit 6961 m. den höchsten Berg außerhalb Asiens. In meinem Reisetagebuch von 2007 schrieb ich auf der ersten Seite: Warum sitze ich immer über den Tragflügeln? Diesmal ist es wieder so. Ist wohl stimmig ... Ich sitze auf der rechten Seite und recke den Kopf, um einen Blick auf seinen Gipfel zu erhaschen. Fast niemand tut es mir gleich. Alle sind mit ihren Handys beschäftigt oder dösen noch. Der majestätische Aconcagua scheint zu grüßen und ich grüße zurück. Die längste Gebirgskette unseres Planeten über dem Meeresspiegel (ich google ein wenig und lerne, dass es eine vulkanische Gebirgskette unter Wasser gibt, die noch erheblich länger ist) wirkt hier schroff und abweisend. Die nächsten Tage werde ich am Fuße der Anden, im Cajon de Maipu verbringen und weiß schon jetzt, dass ich mich mit der Ebene begnügen werde, noch dazu in der hochsommerlichen Hitze. Die Anden verbinden hier nicht Himmel und Erde. Sie erden mich. Noch bin ich in der Luft. Die angekündigten Turbulenzen über den Bergen bleiben aus. Meine freundlichen Sitznachbarn warnen mich vor der zunehmenden Kriminalität in Chile. Es sei anders geworden. Dann bin ich angekommen. Es ist das fünfte Mal, dass ich an diesem Flughafen lande ( nach Dezember 1999, Januar 2007, Dezember 2011, Dezember 2014).
Ich bin so dankbar. Vertraut scheint alles. Vertraut auch die Warnung vor der Einfuhr tierischer oder pflanzlicher Produkte. Was mache ich mit der Engadiner Nusstorte, die mir kurz vor Abflug zur Stärkung geschenkt wurde, mit den Zimtsternen, die ich für Judy einpackte oder auch den obligatorischen Überlebensnussriegeln? Die Warnung vor erheblichen Strafen lässt mich auf dem Formular "Ja" ankreuzen. So muss ich nach langem Anstehen vor der Passkontrolle noch einmal zum Gepäckcheck mit genauer Kontrolle von Gepäck und Körper. Meine Nusstorte in der Hand gehe ich auf den Beamten zu und zeige sie ihm direkt. Er lacht und winkt mich durch.
Wie von meinen Nachbarn empfohlen gehe ich gleich zum "offiziellen" Taxiunternehmen, sie nennen mir einen Fixpreis und wo diese Taxis anscheinend stehen. Beim Ausgehen schaue ich nicht, wie die letzten Male, wo Judy auf mich wartet, sie ist zu Hause "con los abrazos abiertos!". Schon fängt mich ein Taxifahrer ab, hat ein Schild des offiziellen Unternehmens. Als ich ihm dann zu seinem Taxi folge, wird mir klar, dass er auf eigene Verantwortung fährt. Ich betone mehrmals den Fixpreis und spreche das erste Mal seit Jahren wieder Spanisch, was erstaunlicherweise in diesem Moment und für diesen Anlass funktioniert. Er weiß, dass ich weiß, dass es nicht ganz stimmt, was er behauptet und dennoch vertraue ich meiner Intuition, dass ich sicher an mein Ziel komme. Er zeigt mir auf dem Handy, wo er lang fährt, erklärt mir die Streckenführung, damit ich weiß, dass er nicht betrügen würde. Dann beginnt ein Gespräch mit mir über Werte, Arbeitsmoral mit dem Satz: Niemand sei ja perfekt, das sei nur Gott und er versuche jeden Tag, nachdem er Gott gedankt habe am Morgen, dass er lebe, bestmöglich zu leben, und das bedeute für ihn ehrlich zu arbeiten. Am Ende werden es 10.000 Chilenische Pesos mehr sein, als im Fixpreis vereinbart. Ich verbuche es auf der Haben-Seite, habe eine kleine Einführung erhalten, wie es aus seiner Sicht gerade um Chile steht, politisch und gesellschaftlich. Nun bin ich da, biege in die kleine Straße in Nunoa ein, der Taxifahrer verabschiedet mich mit Handschlag und wünscht mir eine wunderbare Zeit in seiner schönen Heimat.
Judy wohnt in der Strasse, die übersetzt "Rettungsweste" heißt. Welch passender Name. Auf den ersten Blick, und auch auf den zweiten, hat sich wenig verändert. Ich komme zu Besuch, der Besuch liegt schon einige Jahre zurück und hat einige Tausend Kilometer überwunden. Zeit und Raum sind relativ. Ich setze mich an den Küchentisch. Tomate und Palta (Avocado) stehen schon bereit. So habe ich Judy vor über 25 Jahren kennengelernt, als sie in der Mini-Küche in der Universidad Biblica Latinamericana in San Jose/Costa Rica genau dieses zubereitete. Alles ist bereit, sehet und schmecket kommt mir in den Sinn. Es gibt Wasser, der Nescafe steht schon bereit. Ihr älterer Sohn Peter und seine Kinder sind da und essen aus dem großen Topf mit Pasta und Pesto mit. Gastfreundschaft pur. Ich erinnere mich an ihn, er sich nicht an mich, nicht verwunderlich bei dem großen Netzwerk von Frauen, das Judy quer durch alle Kontinente in den Jahrzehnten aufgebaut hat und pflegt. Judys alter Hund Santi kommt wedelnd heran, dazu noch eine fast blinde dünne Katze, beide leben schon länger als prognostiziert. Es ist ein guter Ort zum Leben, und auch irgendwann vom Leben Abschied zu nehmen. Beide werde ich hoffentlich in einer Woche wiedersehen, davor liegen Einkehrtage im Centro Tremonhue, ein Treffen der "Hermanas de la Tierra".



TREMONHUE
Vor 20 Jahren ist dieser Ort gefunden und gegründet worden. In der Sprache der Mapuche, der indigenen Bevölkerung bedeutet Tremonhue Ort der Gesundheit, Ort der Heilung. Ein Ort der Ermächtigung von Frauen. Ein Ort für Workshops, Kurse, ein gastfreundlicher Ort, um eine (Aus-)Zeit zu verbringen, einfach da zu sein. Er liegt 1,5 h Fahrt mit dem Auto im Cajon de Maipu, ein großes Holzhaus mit Veranda, einem Garten mit Früchten und einem kleinen Pool. Mehrbettzimmern im 1. Stock. Das Herz des Zentrums ist ein Saal ganz in Holz gehalten, in dem das Labyrinth von Chartres (leicht verkleinert) auf den Pinien-Boden gemalt ist und einlädt, sich mit oder ohne Frage auf den Weg zu machen zum Zentrum und wieder hinaus.
Wo haben wir solche Orte wie Tremonhue? https://tremonhue.com
Wir kommen in der Nachmittagshitze an, die Abende werden angenehm kühl, ebenso die Morgen, an denen ich von Vogelgezwitscher geweckt werde. Wir sind eine kleine Gruppe, alles 'erfahrene' Frauen. Sisterhood. Una sororidad. Ich genieße es Zeit zu haben einander kennenzulernen. Ich höre viel zu, höre mich langsam wieder in das Spanisch ein, antworten kann ich nur in ganz einfachen Sätzen, meist im Präsens. Eine gute Übung. Es ist ein Geschenk, dass ich ins Englische wechseln kann, wenn ich das Bedürfnis habe mich mehr mitzuteilen. So bleibt mehr Raum zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken. Und erst einmal zu schlafen und im Schatten zu bleiben, bis der fast wolkenlose Himmel sein Azur celeste nachdunkelt und der Wind wieder auffrischt.
Rituale - Zuhören - Gemeinschaft
Vier Tage bin ich nun hier. Die ersten Tage viel geschlafen und nun angekommen im Rhythmus diese Ortes und Landes. Ich wache früh auf, genieße das Zwitschern der Vögel, die Kühle des Morgens. Ich genieße es nichts tun zu müssen. Mich zu freuen, was mich erwartet ohne etwas zu erwarten. Die Tage beginnen mit Tai Chi oder Qui Gong im Garten und enden nach Sonnenuntergang mit einem guten Glas Wein und Gesprächen.
Mit Ritualen reisen wir an andere Zeiten und Räume. In großer Freiheit und Fürsorglichkeit begleitet und gestärkt von der uns umgebenden Landschaft. Zugleich geht es stets darum, im Hier und Jetzt zu sein, um die Frage zu hören: Was können wir angesichts der Klimakrise tun, welche Haltung einnehmen und leben, wahrnehmen, was unsere Aufgabe darin ist. Was bedeuten Religion, Theologie und Spiritualität heute, wenn wir das Seufzen der Schöpfung ernst nehmen und zugleich eintauchen in den weiten Atem der Ewigkeit, der uns verbindet mit allem Sein?
Wir lesen und hören Texte von Thomas Berry, Brian Swimme, Joanna Macy und Viviana Aliaga. Ich genieße die Zeit. Von Tag zu Tag schärfen sich meine Sinne und verabschieden sich die inneren Antreiber.
Dankbar bin ich für solche Räume der Gemeinschaft und der Geschwisterlichkeit. Tochter sein. Schwester sein. Ein Netz, eine Verbindung, die trägt. Der Tisch ist gedeckt mit Sorge und Freude. Alle, die hier sind, treibt die Sorge um, wie es mit dieser Welt weitergeht, was zu tun und zu lassen ist. Sind Aktivistinnen, mehr als ich. Für beide gilt: Sich verbinden mit all der Weisheit, die vorhanden ist und sich nicht als Gegenüber, sondern als One zu verstehen. Anteil nehmen und geben. Vielleicht wird das meine Aufgabe, irgendwann an einem weiteren Rastpunkt der Lebensreise.
Bald werde ich von hier nun wieder aufbrechen. Bilder bleiben. Erfahrungen. Mein Gepäck ist leicht.
Und als Filmtipp nehme ich mit: Fantastic Fungi (2021).
Rituale des Lebens
Cabana de las Abuelas - Caminar el cosmo cantico - Laberinto - tocar el kultrun
VON DEN ANDEN ZUM MEER
Die Reise geht weiter. Von San Alfonso habe ich Abschied genommen (siehe Seiten zu Tremonhue) und von den 1095 m. geht es nun wieder auf Höhe des Meeresspiegels an die pazifische Küste bei El Quisco. Es ist Hochsommer und schon vieles verbrannt und braun und die Sonne strahlt unbarmherzig. Zugleich finden sich an jeder Straßenecke fliegende Händler, die Wassermelonen, Pfirsiche, Mango, Beeren und vieles andere in den schönsten leuchtenden Farben verkaufen.
Mir wird oft eine "wunderbare Auszeit" gewünscht. Ich erlebe diese Zeit nicht als "Aus"-Zeit. Es ist ein anderes Zeit-Erleben. Ich will und kann das gar nicht bewerten, als eine 'bessere'/erfülltere' Zeit, es ist Zeit in einem anderen Zeit-Raum-Kontinuum, ein heimatliches Gefühl in der Fremde. Zeit dehnt sich, Zeit zieht sich zusammen. Ich begegne Frauen, die ich das erste Mal im Jahr 2000 traf und vielleicht noch einmal auch im Jahr 2007, von ihnen hörte und jetzt wiederbegegne, sei es auch nur in Erzählungen. Alle werden älter, manche sind alt und doch viele ganz lebendig. Gestern lernte ich eine 85jährige hochgewachsene Holländerin kennen, die mit Judy und anderen Frauen seit Jahrzehnten in einem Buchclub ist, seit den 1950er Jahren in Santiago lebt, ihr Vater war befreundet mit Edith Stein. Er wohnte in demselben Dorf, in dem der Karmel war und kam nie über ihre Deportation hinweg. Sie ist Feministin, Sozialarbeiterin, Schwimmlehrerin, immer noch auf Demonstrationen unterwegs, liebt ihren Pisco Sour am frühen Abend und ist besorgt über das, was in Chile weltweit gerade an wachsender sozialer Ungerechtigkeit geschieht. "We should have talked more" verabschiedet sie mich und bis "next time". All die kostbaren Erinnerungen an die vielen Erfahrungen, die ich in Chile bereits machen durfte, kommen wieder und sind präsent. Zurück in Deutschland wird das wieder ganz anders sein. Das Bild der Verbindung ist mir vor Augen, wie von dem unterirdischen Wald, das mich in Volker Schlöndorffs Film "Der Waldmacher" so faszinierte, die unsichtbare und zugleich lebensrettende Verbindung des Wurzelwerks, von Myzel und Rhizomen.
Verbunden bin ich im Gewebe des Lebens und der Farben. Hier mit Tischdecken der letzten Tage und diesem einfachen Mondbild, das ich seit dem ersten Sehen vor 20 Jahren in mir trage: Wege öffnen sich, wenn wir sie gehen.



Der Pazifik ruft - Algarrobo und El Quisco
El Canelo. Blick aus dem Fenster von der Villa Sophia, in der Judy und ihre Familie seit vielen Jahren Freunde empfangen und den Sommer verbringen. Schon vor 20 Jahren lud sie mich ein zum Schreiben, zum Schauen, zum Sein. Das Atmen der Seele. Das Geschrei der Möwen. Der Wind frischt auf und kühlt. Alles ist da.








Das Meer zieht an. Das ewige Spiel der Wellen. Der Pazifik hat Kraft und kann selbst im seichten Wasser die Füße wegziehen. Ich kann mich nicht sattsehen an den Wellenbergen und -tälern und beginne den Gesang der Steine am Spülsaum zu hören. Die Freude am Entdecken von Licht und Schatten, Baumstrukturen und den trockenen Duft der wild wachsenden Kräuter sauge ich ein und möchte ich teilen. Mir wird gerade deutlich: So oft nehme ich die Ungleichzeitigkeit in der alltäglichen Ausdifferenzierung wahr, jetzt darf ich Gleichzeitigkeit erleben und genießen.







Abendstimmungen - Blick von der Veranda mit Dank an den Tag
Der Tanz der Vögel in den Sonnenuntergang und in eine unendlich scheinende Weite
(und die davor gespannten Kommunikations- und Energiefäden braucht es ebenfalls)
Das Rauschen der Wellen wiegt in den Schlaf



IM ÜBERGANG
Schöpfung - Vielfalt des Lebens (Biodiversität)
"(Er)kennen, Wertschätzen, Schützen. Die Flora und Fauna vor Ort, sie schafft und führt zu einem neuen Paradigma menschlicher Aktivität, die die Umwelt respektiert mit all seinen ausbalancierten Dynamiken." So lautet (in meiner Übersetzung) der Titel/Auftrag eines beeindruckenden großen Wandbildes, das über mehrere Etagen hinweg die Schöpfung in den Blick nimmt.
Geschaffen von dem lokalen Künstler Francisco Ramos 2022 in El Quisco an den Wänden eines Spielplatzes und kleinen Parks auf dem Weg zum Strand. So viele Menschen, gerade jetzt im Sommer, halten an, fotografieren sich davor, laufen die Tier- und Pflanzenwelt ab, erklären sie ihren Kindern. Für mich ein schöner Abschied von Chile und Übergang auf dem Weg nach Galapagos und in dem Schatz seiner besonderen Pflanzen- und Tierwelt.





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